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Fremde Verwandtschaften

Er hat sich angewöhnt, nicht nur auf Reisen, sondern auch in seiner Heimatstadt ab und zu ohne den Anlass einer besonderen Ausstellung ins Museum zu gehen und landet dort jedes Mal vor dem eigentlich doch tödlich berühmten Bild vom Turmbau zu Babel, das Pieter Bruegel aus der Hoogstraat im Marolles-Viertel von Brüssel gemalt hat. Einmal hat er mit der Belgierin über das Bild und den Maler gesprochen, und sie hat ihm die Straße und das Viertel beschrieben; dort hat sie als Studentin gewohnt und hätte sie gerne weiter gewohnt (wäre nicht das Kind gekommen, die Wohnung zu klein geworden und so weiter, man kennt das), in der alten Straße mit den kleinen Läden und dem Gewirr von Sprachen, das im Schatten des monströsen, vom völkermörderischen König Leopold errichteten Justizpalastes liegt.
Was den Architekten fasziniert, ist weniger das Bild selbst als das, was darin nicht zu sehen ist, worauf aber die vielen Eingänge, die vielen dunklen Fenster, die kleinen, leicht zu übersehenden Gestalten (viele sind offensichtlich Arbeiter, aber nicht alle) verweisen. Was ist im Innern dieses Dings; wartet hier schon etwas? Eine Welt anstelle der Welt?
In einer offenen Tür auf einer der sich schneckenförmig hinaufziehenden Plattformen stehen eine Frau mit weißem Kopftuch und ein Mann, der fast nur ein Schatten ist, der Architekt hält sie für Bewohner (vielleicht heimliche Bewohner). Ganz in der Nähe befinden sich drei Gestalten, eine Frau darunter, die auf offenem Feuer etwas kochen. Einer der Männer ist wie ein Tier hingekauert, vielleicht hat er nur das Feuer angefacht und will es am Leben halten. Einer hockt da und isst schon. In welcher Sprache reden sie miteinander.
Ein Mann steht etwas von den dreien entfernt und zeigt nach oben: Viele Meter hoch zieht sich die nackte Mauer, an der Bretter lehnen, dann ein Fenster, schräg darüber ein runder kleiner Balkon, von dem ein Arbeiter ein Brett herunterlässt oder hochzieht. Kleine Häuschenformen, wie aus der Stadt draußen hier herauf versetzt, wachsen aus den Mauern. Eines davon steht direkt vor einem der Tore. Im Eingang daneben sind sieben oder acht Leute versammelt, eng zusammengedrängt, man weiß nicht warum; aus dem Fenster darüber schaut eine Frau auf sie herab oder über sie hinweg aus dem Bild heraus. Es gibt Tunneleingänge, durch die vielleicht nicht nur einzelne Arbeiter oder Bewohner, sondern auch Wagen, Pferde, Reiter, wie sie auf den Plattformen zu sehen sind, hinein ins Dunkle gelangen, ins Dunkel hineingesaugt werden können. Ist es dunkel? Oder gibt es geheime Lichtquellen im Innern, über die Kerzen, Talglampen, Fackeln und so weiter hinaus; eine einzige geheime Lichtquelle, im Zentrum des Turms?
Stellenweise scheint der Turm direkt aus dem Fels herausgebrochen (aber aus welchem Fels, in dieser flachen Landschaft?). Wo die Fassade oben geöffnet ist, ist der Bau rötlich, als wäre es ein Wesen aus Fleisch und Blut und man hätte hier den Blick auf die Schicht der Muskeln oder Eingeweide: ein Turm im Inneren des Turms, durch Streben und Torbögen mit der Fassade verbunden. Wie eine Spirale dreht sich der Turm ? mit einer deutlich sichtbaren Neigung nach links, weg von dem nahen Fluss, der die Schelde sein mag oder der Euphrat oder beide zugleich - nach oben, im Inneren hat er die Struktur einer Schnecke. Der Architekt stellt sich ein pumpendes Herz vor, er stellt sich Wunden vor, er stellt sich das Aussetzen dieses Herzens vor. Dann erkaltet der Stein; dann ist er erkaltet.
Unten nahe der Rampe, dort wo der Turm in den Fels übergeht, gibt es Nischen, in denen Männer, vielleicht Maurer oder Maler, flach an die Wand gedrückt auf Gerüsten stehen. Es scheint fast, als klebten sie an der Mauer, wollten in ihr verschwinden.
Der Architekt nimmt seine Kamera mit ins Museum und fotografiert immer mehr Details des Gemäldes, in immer höherer Auflösung; so als könnte er ignorieren, dass das Bild gemalt ist und am Ende nichts als Farbauftrag zu sehen wäre; so als könnte er einen versteckten Eingang finden. Etwas dort drin muss ihm vertraut sein.
Weist irgendetwas in dem Gemälde (oder in irgendeinem der Gemälde, die den Turm zeigen) auf den Moment der Zerstörung hin? Auf einen Grund für die Zerstörung, ihre Notwendigkeit? Diese Öffnung: ist sie ein Riss, eine Wunde, der Anfang der Zerstörung oder wird hier noch gebaut (so scheint es doch), oder ist es unmöglich, zwischen Bau und Zerstörung zu unterscheiden? Was hat es mit dem Fels auf sich?
Als er mit der Belgierin über das Bild gesprochen hat, erzählte sie ihm vom labyrinthischen Justizpalast, der über dem Marolles-Viertel thront, lang nach der Zeit des Malers brutal ins Stadtgefüge geschlagen, doch in seinem Inneren kann man verlorengehen wie im allertiefsten Labyrinth. Es ist eine Welt anstelle der Welt. Für die Menschen von draußen (so sagen doch Politiker manchmal, die Menschen draußen) ist alles hier fremd, sie verstehen die Sprache niemals ganz, die Sprache der Justiz ist immer eine fremde Sprache, und dieser Bau lässt es einen merken. Stell dir die gerade ins Land gekommenen Afrikaner vor, die wegen eines Päckchens Gift oder wegen des falschen Blicks eines Polizisten hier gelandet sind. Vorbild für das Gemälde war das Kolosseum, sagt der Architekt, die Menschen, die dort mit Löwen und Bären kämpfen mussten oder einander gegenseitig abschlachten, sind vielleicht mit einer ähnlichen Verständnislosigkeit in die Arena getreten (einer Verlorenheit, stellt er sich vor, einer so absoluten Verlorenheit, dass sie schon beinahe wieder als Sicherheit erscheinen kann, und jeder der Sklaven, jeder der Gladiatoren ist allein mit seinem Körper, fühlt sich so wohl in seinem Körper, in diesem Moment, vor der grölenden, widerlichen Menschenmenge, unter dem blauen römischen Himmel, in der Ausweglosigkeit, der Sand unter seinen Füßen, die Wächter, das Raubtier wenige Meter vor ihm. Spätere Legenden verwechseln dieses Gefühl dann mit Glauben, der sogenannten Glaubensstärke, oder sonst einer Art von Stärke, aber nichts als Angst ist darin).
Oft hat er auch mit Margarita über das Bild gesprochen, und sie hat ihm Passagen aus einem merkwürdigen Text vorgelesen. Er las dann gleich selbst das ganze Buch von Daniel Heller-Roazen über das Vergessen von Sprache. In dessen Schlusskapitel geht es um den Turmbau und die Rätsel, die diese aus wenigen Sätzen bestehende biblische Geschichte aufgibt. Das Volk von Schinear, so heißt es, baute den Turm (oder die Stadt; den Turm, der eine Stadt war), um sich nicht zu zerstreuen, doch der Bau bewirkte gerade das, was er verhindern sollte: Als Strafe für den Turmbau wurde dieses Volk zerstreut und seine Sprache verwirrt. Aus der bis dahin gemeinsamen Sprache wurden zweiundsiebzig neue Sprachen.
Wovor diese Menschen Angst hatten, was ihr Verbrechen war und worin ihre Strafe bestand, ist gleichermaßen unsicher und Gegenstand jahrhundertelanger Diskussionen. Die Angst, die Tat, die Schuld und die Bestrafung gehen ineinander über.
Nach Rabbi Jeremiah ben Eliezer gab es drei Fraktionen unter den Erbauern: Die einen wollten nah am Himmel wohnen (sie werden zur Strafe zerstreut), die anderen Krieg gegen Gott führen (sie werden zur Strafe in Affen, Geister und Dämonen verwandelt), die dritten Götzendienst treiben und sich einen Namen machen (dafür die Strafe der Sprachverwirrung). Wie die Sünde ist auch die Strafe dreifach. Ein Drittel des Turms wurde verbrannt, ein Drittel versank unter der Erde, ein Drittel besteht noch, schreibt Rabbi Jonathan. Er besteht noch, aber wir nehmen es nicht wahr, denn »die Luft des Turms macht vergesslich.« Der Architekt denkt, der Turm ist nicht aus dem Fels hervorgebrochen, sondern von ihm verschlungen, in Natur verwandelt. Die Figuren, die den Bau besiedeln, diese aus immer größerer Nähe fotografierten Farbtupfer, scheinen schon wie Geister, Affen, Dämonen, sie sind fast Tiere (fast Zeichen, fast Insekten), weil sie im Vergessen leben. Sie (oder ihre Herren, die Fürsten des Volkes von Schinear, König Nimrod, der mit seinem Gefolge auf dem Gemälde zu sehen ist) wollten den Turm bauen, um das Vergessen zu verhindern, und haben sich (oder sich und ihr Volk) nur in der Luft des Vergessens eingeschlossen.
Vielleicht haben wir den Turm nie verlassen und nie wieder den Fuß auf festen Grund gesetzt. Wir leben in einer Welt anstelle der Welt. Wir haben eine gemeinsame Sprache, aber wir haben das Gemeinsame an ihr vergessen, deshalb verstehen wir einander nicht mehr. Jeder bekommt sein Urteil gesprochen in einer Sprache, die er kaum versteht; für eine Tat, an die er sich kaum erinnert, die kaum zu seinem Leben gehört. Wir haben auch vergessen, dass wir uns befreien wollten. Daran wird sich der Architekt erinnern, das wird er notieren, wenn er in Afrika sein wird und von der Pyramide von Abidjan hören, von dem, was sie sein sollte, und von dem, was sie geworden ist. Aber noch gibt es, auf dem Bild, in der Zeit des Bildes, den Fluss draußen, noch gibt es die Ausgänge, die Wolke, die um die Spitze des Turms spielt, es gibt die Stadt im Hintergrund, die Antwerpen sein soll, auch wenn die Belgierin meint, dass sie wenig von Antwerpen darin erkennen kann.