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Rezensionen

Jörg Drews, Tagesanzeiger

(…) Stangls Können und Kraft liegen im rücksichtslos Unheimlichen (…): in einer durchgehaltenen Intensität der Beobachtung, mit dringlicher Empathie in seine Figuren hinein, deren Befinden er drängend und unablässig beschreibt. (…)
Rätselhaftigkeit und Verstörung sind nicht auf exotisch Entferntes angewiesen, entspringen jetzt bei Stangl auch überraschend und rücksichtslos den genau betrachteten Psychen in der unspektakulären Nachbarschaft. Kein Erzähler hilft uns bei der Deutung, es wird immer nur so viel gesagt, wie im Bewusstsein der beiden Frauen ist, von denen und aus denen erzählt wird. (…)
Der Fluchtpunkt des Erzählens ist eine gelähmte Dora im Rollstuhl, durch den Park geschoben von Emilia, wie sie einst ihren Kinderwagen schob. Gebadet und gepflegt, will sie sich aus der Welt fallen lassen und gibt sich auf. (…) was wir erfahren – und hier gelingen Stangl unerhörte Prosapassagen: wie es für sie selbst ist, als Dora stirbt; Stangl riskiert es, dies aus ihrer Perspektive zu erzählen.
Dergleichen hat man lange nicht mehr gelesen. Es ist als flöge ihre Seele davon: das ist bewegend und keine Sekunde peinlich, und es ist so feierlich und genau, wie zehn Seiten später das Ende der Mutter. Sie hat ihre Tochter eine unbestimmte Zeit überlebt, tröstet sich fast und will dann doch weg aus dieser Welt. Sie stirbt nicht eigentlich, sondern sich entgrenzend löst sie sich auf. Der Dichter Thomas Stangl spielt hier mit höchstem Einsatz, und er hat alles gewonnen. Diese letzten 25 Seiten schließlich sind unheimlich, menschenfreundlich und über die Massen kühn.