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Rezensionen

Wieland Freund, Die Welt

(…) Und vielleicht waren ja auch gar nicht Laing und Caillié die spannendsten Figuren in "Der einzige Ort", vielleicht war es vielmehr der unsichtbare Erzähler, der da durch ihre Köpfe spukte. Er war die typisch Stanglsche Gestalt, wie der neue Roman jetzt lehrt. Dort taucht dieser Erzähler gewissermaßen wieder auf, ist wiederum ein Gespenst, diesmal jedoch mit einem Körper versehen, wenn auch mit einem, der durch Wände geht: "Ich bin zu jeder Lüge und zu jedem Verrat bereit, doch die Zerstörung reicht so tief, dass selbst Lüge und Verrat (oder, so viel einfacher und mir näher, das Untertauchen, das Schweigen) keine Sicherheit mehr bieten." Man möchte meinen: Hier spricht eine Stanglsche Urgestalt.
Der neue Roman nahm seinen Ursprung in einer Zeitungsnotiz: Eine schwer an multipler Sklerose erkrankte Frau hatte die weitere Behandlung verweigert und war in der Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilte, einsam und unbemerkt gestorben. Stangl forscht den Gründen für diesen bedrückenden Entschluss (von Tochter und Mutter) nach – doch seine Erkundung führt ihn nicht in die tiefsten Tiefen einer Psyche, sondern ins tiefste Wien hinein. "Ich habe versucht", erklärt Stangl, "die Geschichten der beiden Protagonistinnen vom Ort her zu erzählen."
Emilia und Dora leben, wie Stangl selbst, in der Leopoldstadt, dem zweiten Wiener Gemeindebezirk, der, bevor die Nazis kamen, Wohnort vieler Wiener Juden war. Emilia jedoch hat in ihrer Jugend die Deportationen mit angesehen - "ein dunkler Punkt in ihrer Biografie", sagt Stangl. Nicht nur in Emilias Augen trägt die Stadt seither Narben - ist die Stadt seit jeher überhaupt ein Narbengeflecht. "Ihre Musik" gehorcht einer Traumlogik, Stangl verweist auf Walter Benjamins Begriff der "Urgeschichte". Emilia und Dora erkunden, das Sterben im Sinn, die Orte ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und einer Zukunft ohne sie, Stangls Gespenstererzähler wiederum geistert ebenso durch fantastisch anmutende Räume. In einer der stärksten Passagen des Romans gerät er auf einen nie gesehenen Platz, "inmitten von Wien", "ein völlig einsamer, unbekannter Ort, fremder als alles, was in fernen Weltgegenden (von denen ich eine Zeit lang geträumt habe) aufgesucht werden kann". (…) Auch in seinem zweiten Roman ist Thomas Stangl ein Geistreisender geblieben. Für den "Einzigen Ort" hat er den Niger nach Wien umgeleitet; für "Ihre Musik" fließt die Donau durch ein fremdes Land.