Kurt Neumann, Wespennest
(…) Zwei Lebensläufe treten allmählich, wortwörtlich Schritt für Schritt aus einem Puzzle von simultan wirksamen, immer nur in Bruchstücken darstellbaren Phänomenen, die in ihrer Summe das Wesen einer Großstadt ausmachen, hervor. Die „faktischen Daten“ dieser Lebensläufe liegen in einem Gesamtmuster, das sich ebenso allmählich bildet und deren substantieller Teil sie sind, verborgen, und nur in Momenten privilegierter Aufmerksamkeit lassen sie sich aus dem Muster herauslesen. Um dies zu erreichen, ist ein Registrator oder Erzähler vonnöten, den Stangl so diskret wie entschieden in dieses Stadt-Lebens-Geflecht einwebt und ihn wie nebenbei mit einem wohl dosierten Rüstzeug von Erzählstrategien ausstattet. Daß es der Chronist selbst ist, der das Gesamtmuster erst auf wunderbare Weise webt, ist die überzeugende Pointe dieses herausragenden Erzählwerkes. (…)
Nicht überbietbar ist die Subtilität, mit der Thomas Stangl von den Gemeinsamkeiten der Lebensempfindungen der Tochter und der Mutter zu erzählen weiß, wie sie einander gegenseitig bedingen und modulieren, sich einander entziehen und sich doch immer wieder kreuzen. Die Tochter kann sich mit den Augen der Mutter ansehen, die Mutter wieder sieht sich auf einer gemeinsamen Reise nur als Bild im Kopf der heranwachsenden Tochter.
Bewegung und Wandel prägen nicht nur die Beziehung der zwei Frauen, in der Entfremdung und Fürsorge zugleich bereit sind, ihre divergenten und konvergenten Wirkmächte zu aktivieren und bis zur Verdinglichung oder Verkindlichung des finalen Pflegefalls Dora zu treiben. Der Freund der Tochter war wieder aus deren Leben verschwunden, obwohl beide im bezaubernden Einklang der sinnlichen Liebe erschienen waren, obwohl ihn die Mutter schon als Teil der Tochter angesehen hatte.
Aber auch Emilias Geliebter war, mehr als ein halbes Jahrhundert davor und doch wie heute, nicht zu halten gewesen.
Es ist einer von mehreren Brüchen, die sich der Tochter als Verlust der Selbstverständlichkeit des Lebens einschreiben: Abbruch der Führerscheinausbildung, jähe Abweichung vom Weg zur abschließenden Studienprüfung, Verlust der Beschäftigung, Ausbruch der unheilbaren Krankheit, Abbruch der Therapie. (…)
Es scheint, als suchten die Brüche und die Gewaltverhältnisse der Stadt, der Wandel und der Niedergang, die Zerstörung und die Bemühung um Wiederaufbau in den Existenzen der einzelnen Stadtbewohner ihr Echo.
Mit ihren im Detail nachgezeichneten Wegen durch die Stadt tragen sich Mutter und Tochter in deren Plan ein. Sie erkennen am Widerspiel von alten Geschäftsaufschriften, Emblemen und Fassadenornamenten mit den geglätteten Um- und Neubauten jüngerer Zeiten das Geschichte von Entwicklung, Prosperität und Scheitern, in dem sie sich als dessen Fraktale bewegen. Dieses doppelte existentielle Entdecken ist aus der Perspektive der Protagonistinnen, aber gleichzeitig aus der Position des Autors erzählt, der sich nicht nur als Komplize seiner Romanfiguren versteht, sondern auch als der seiner Leserinnen und Leser erweist, die in den Sog des städtischen Da-Seins mit hineingezogen werden, sobald sie sich auf die Lektüre dieses Buches eingelassen haben. (…)
Geschult an den literarischen Objektivierungsverfahren des nouveau roman erschafft Stangl einen überwältigenden Reichtum von Spannungsverhältnissen und Stimmungen, der in der außenseiterischen Intellektuellen Emilia, in der heranwachsenden und mit 40 Jahren sterbenden Dora ein Singen aus der Tiefe ihrer Existenz aufsteigen läßt, und Linien zieht, über die weitest möglichen Räume dieses Lebens, anderer Leben, über Räume und Jahrhunderte eines langsamen Gespräches, einer leisen Musik gespannt.
In den prachtvoll sich streckenden und noch und noch aufblühenden Satzperioden dieses Buches leuchtet die Schönheit einer sich stets erneuernden, entlang von motivischen Wiederholungen vorantreibenden Sprachmelodie, in der das Glück und das Elend des eigenen Lebens zu vernehmen ist.
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