zum Hauptmenü

Bücher

Ihre Musik

Rezensionen

Gisela von Wysocki, Literaturen

(…) Emilia Degen und ihre Tochter Dora, zwei Gestrandete im kleinteilig zerfaserten Universum ihrer vier Wände, werden, während sie sich, zwischen Blumentopf und Computer, zwischen gedecktem Frühstückstisch, Wandbild mit Küstenlandschaft und Bergen von abgelegten Zeitungen einen Weg durch ihre Wohnung bahnen, immer wieder von „ihrer Musik“, diesem rätselhaft transzendentalen Hauchton, gestreift. Ein Ton, der sich in der beängstigenden, von Normalität und Musealität geprägten Wirklichkeit der beiden immer wieder Gehör zu verschaffen weiß und den begrenzten Alltagsverrichtungen Farbe verleiht. Er versetzt die mitgeschleppten Gewohnheiten der Frauen und ihr Agieren zwischen Schreib- und Küchentisch auf eine phantasmagorische Ebene. (…)
Man könnte bei Stangl von einer sprachlichen Geste des Ausscherens sprechen, die zu den Stoffschichten unterhalb des gewohnten Anblicks vorstößt. Dies aber nicht im Sinne kapriziöser Umdeutungen, sondern durch eine in ihrer übergenauigkeit, ihrer präzisen Treffsicherheit beinahe quälenden sprachliche Suchbewegung. Sie schafft es, während sie das eingeschlafene Leben beschreibt, einen Erstarrungszustand als Metamorphose kenntlich zu machen. (…)
In diesem Raum festgezurrter zeremonialer Ordnungen haben sogar die Tiere ihre Spontaneität verloren. Mehrfach wird von einer Taube berichtet, die, als wäre sie ferngesteuert, mit dem immer gleichen Flügelschlag aufsteigt, dicht an Doras Gesicht vorbei. Eine andere hüpft aufs Trottoir, „als hätte sie vergessen, dass sie fliegen kann“. Ein fremder Automatismus ist den Lebewesen in die Glieder gefahren. Bevor Dora die Wohnung verlässt, lauscht sie ins Treppenhaus, um einer Begegnung mit den Nachbarn auszuweichen. Seit ihrer Geburt lebt sie bei der Mutter. In ihrem Kopf staut sich das Wissen aus Studienzeiten, ohne, dass sie es jemals verarbeiten, weitergeben oder verwerten wird. Dora leidet unter Multipler Sklerose und wird vor ihrem Doktorexamen sterben. „Schon ohne Haut und doch zugleich von einem Panzer umgeben.“
In einem Akt der Selbstbehauptung, einem sehnsuchtsvollen Impuls folgend, lässt sie sich von ihren Spaziergängen dennoch nicht abbringen. Unterwegs nehmen ihre letzten Lebensimpulse eine unerwartet aufrührerische Form an. Kaum draußen auf der Straße, befällt sie das Gefühl, „als müsste sie ein Loch in die Welt schlagen“ oder als würde, anstelle dessen, „in ihrer Brust ein Abgrund aufbrechen“.
Zwischen Morzinplatz, Salzgries und Fleischmarkt, zwischen Taborbrücke und Praterstraße wird Dora zu einem Teil, wird sie Zubehör einer Stadt, die ihre Bewohner in den sich kreuzenden Gassen wie in einem dichtmaschigen Netz einquartiert hat. Sie bemerkt es kaum, dass die Riemen ihrer Schuhe sie verletzen und schmale Striemen, rötliche Schürfwunden an den Füßen hinterlassen. Das Schmerzgefühl dringt nicht bis zu ihr vor. Doras Krankheit ist der Hauptschauplatz des Buches, Keimzelle einer poetischen Erkundung menschlicher Betäubungszustände. (…)
Einmal heißt es über Dora, „wenn sie nun heimkehrt, dann als andere, es wird sein, als wäre sie nie heimgekehrt.“ Die Dramatik dieses Buches zehrt nicht vom exzessiven „Höhepunkt“, vom emotionalen overdrive. Das Drama geht von der minimalistischen Versenkung in Räume, Zustände, Konfigurationen des Seelischen aus. Als „Bewegungsfeld“ wird bei Thomas Stangl ein Zimmer beschrieben. Das wäre auch eine gute Bezeichnung für diesen außergewöhnlichen Roman. Die Simultaneität von Bedürftigkeit und Mangel auf der einen Seite, von Spielräumen und Reichweiten auf der anderen Seite fügt sich hier zu ausbalancierten Bildern: zur Poesie. Es löst sich der wendungs- und windungsreiche Verlauf der Dinge aus den Gelenken wie aus einem zu eng gefassten Körper.